Zurzeit werden in Georgien die Zapfen der Nordmanntanne geerntet. Für die Samen des beliebten Weihnachtsbaums riskieren Arbeiter ihr Leben. Das Millionengeschäft wird aber in Europa gemacht.
Von Hans Gasser
Der Weg ist steil und schlammig. Georgi Tsagurischwili geht zügig voran, in ausgetretenen Turnschuhen. Die Socken hat er über die zerrissenen, mit Harz verschmierten Jeans gezogen. In der Hand hält er sein Smartphone. Es spielt georgische Popmusik. Georgi hinkt leicht. “Nein, ich bin noch nie abgestürzt”, sagt er, “dazu bin ich zu schlau. Aber es passiert hier öfter was.”
Seit er 13 ist, macht er jeden Herbst diese Arbeit. Andere gibt es kaum in Tlughi, seinem Dorf am Fuß des Waldes. Jetzt ist er 27. Nach einer Dreiviertelstunde erreicht Georgi eine kleine Lichtung zwischen hohen Tannen. Ein paar Männer und Frauen stehen rauchend herum, den Kopf im Nacken. Dumpfe Einschläge sind zu hören. “Achtung!”, ruft jemand. Von oben fallen dicke Zapfen wie Geschosse auf den Waldboden. 30 Meter darüber hängt ein Mann mit einer seltsamen Kapuze im Wipfel. Georgi zieht sich einen Klettergurt an und setzt eine Wollmütze auf, damit das Harz seine Haare nicht verklebt. Dann klettert er flink wie ein Eichhörnchen eine Tanne hinauf. Erst an der Spitze, wo die Zapfen hängen, sichert er sich mit einem kurzen Seil und beginnt, mit beiden Händen Zapfen abzureißen und runterzuschmeißen. Die Frauen sammeln sie auf und stecken sie in Eimer und Säcke.
Die Zapfen sind ein wertvolles Gut. Denn sie enthalten die Samen der Nordmanntanne, die hier, in den Bergwäldern des Südkaukasus, zu Hause ist. Sotschi heißt der Baum auf Georgisch, davon kommt auch der Name der russischen Stadt, die vor langer Zeit zu Georgien gehörte. Allein in Deutschland werden jedes Weihnachten rund 22 Millionen Nordmanntannen verkauft, ein Millionengeschäft. Um sie in Baumschulen zu züchten, braucht es jede Menge Samen. Und die wachsen nur auf großen, alten Bäumen, von denen es hier, zwischen der Stadt Ambrolauri und dem Shaori-See in der Provinz Ratscha, jede Menge gibt.
Ratscha ist eine touristisch noch wenig erschlossene Gegend. Im Gegensatz zum benachbarten Swanetien, wo europäische Trekkinggruppen sich auf die Füße treten, ist man hier als Ausländer noch fast allein. Es gibt noch wenige Hotels und Pensionen; die Regierung will den Tourismus hier nun aber stärker fördern, aus gutem Grund. Zum einen ist es eine der ärmsten Regionen Georgiens, aus der die meisten jungen Leute abwandern. Zum anderen hat sie neben Wäldern, Seen und Weinbergen auch Anteil an den gewaltigen Bergen des Großen Kaukasus. Der kann mit seinen vielen über 4000 Meter hohen Gipfeln und Gletschern locker mit der Schweiz mithalten. Über den Shaori-See hinweg sieht man den Hauptkamm, der zwei Fahrtstunden entfernt liegt, an der Grenze zu Russland.
Bis es mit dem Tourismus so weit ist, müssen Georgi und viele andere hier sich mit dem Zapfenpflücken etwas Geld hinzuverdienen – unter Lebensgefahr. In diesem Herbst gab es bereits einen Toten und einen Pflücker, der sich mehrere Rippen gebrochen hat. Angst habe sie trotzdem nicht, wenn sie ungesichert in die hohen Tannen steigt, sagt Tamuna Tsagurischwili. Sie ist die Schwester von Georgi und seit Jahren mit dabei. Heute sammelt sie nur vom Boden auf. “Aber ich steige auch oft in die Bäume, da macht sich mein Mann mehr Sorgen als ich mir um ihn”, sagt sie und lacht. Gizo Pirveli, ihr Mann, ist mittlerweile von der Tanne heruntergekraxelt, nimmt die Kapuze ab, setzt sich auf dem Waldboden und raucht.
Die beiden wohnen im sechs Autostunden entfernten Tiflis. Sie arbeitet als Kellnerin im Spielcasino, er versucht sich als Fahrer für iranische und arabische Touristen. Für die drei Wochen Erntezeit im Herbst kommen sie beide zum Pflücken nach Tlughi, weil das gutes Geld bringt. “Allerdings drücken die georgischen Zwischenhändler die Preise”, sagt Gizo. Er und seine achtköpfige “Brigade” verdienen 1,2 Lari pro Kilo Zapfen. Das sind umgerechnet etwa 35Cent. 1500 Kilo sollen sie für eine dänische Firma pflücken, das ist der Auftrag. Was mit den Zapfen passiert, darüber wissen viele der Pflücker nicht genau Bescheid. Manche denken, sie würden für kosmetische Produkte in Europa verwendet. Weihnachtsbäume sind nicht üblich im orthodoxen Georgien. Dänische Firmen, die ihre Samen und Nordmanntannen nach Deutschland verkaufen, haben den Wald in Planquadrate aufgeteilt. Dafür mussten sie teure Lizenzen vom Staat ersteigern. Weil es einen großen Schattenmarkt um die in Europa begehrten Samen gibt, pflücken viele Gruppen auf eigene Rechnung und verkaufen die Zapfen über Mittelsmänner. “Das ist nicht illegal, sagt Gizo, “schließlich ist das unser Wald.”
Michael Kraus sieht das naturgemäß etwas anders. “Mir werden ständig Zapfen angeboten, manchmal sogar aus unseren eigenen Waldstücken. Aber ich verstehe das schon, es sind arme Schlucker.” Kraus, ein jovialer 40-Jähriger mit Rastas und Nickelbrille, steht im Garten seiner Pension in Ambrolauri und wartet seit einer halben Stunde auf seine Mannschaft. “Die Leute aus Ratscha haben einen anderen Zeitbegriff, mehr so jamaikanisch”, scherzt Kraus. Er ist Erlebnispädagoge und studierter Förster aus Freiburg. Seit vier Jahren reist er im Herbst immer für vier Wochen nach Ambrolauri. Die dänische Firma Fair Trees hat ihn angeworben. Sie verkauft Fair-Trade-Weihnachtsbäume, und die Fairness beginnt schon bei den Samen. Kraus bringt seiner Pflücker-Truppe Seilklettertechnik bei, damit sie von unten bis oben gesichert auf die Bäume steigen. Und er überwacht das auch. “Dass für Weihnachtsbäume Menschen sterben, soll nicht sein”, sagt Kraus. Doch es sei anfangs nicht leicht gewesen, die Einheimischen vom Gebrauch von Klettergurt, langem Seil und Helm zu überzeugen. Das Pflücken gehe so viel langsamer vonstatten. Dafür bezahle Fair Trees fünf Lari (1,60 Euro) pro Kilo Zapfen, zusätzlich bekommen die Arbeiter und ihre Familien eine Krankenversicherung fürs ganze Jahr. Das ist fürstlich, denn ein Kilo der in der Nähe geernteten Chwantschkara-Trauben, aus denen der teuerste Weins Georgiens hergestellt wird, brachte diesen Herbst sieben Lari.
“Früher bin ich von Baum zu Baum geklettert, um sehr schnell viel zu ernten”, sagt Pata Kobachidze, ein Fair-Trees-Pflücker. Er macht die Saisonsarbeit seit 30 Jahren und verdient sonst sein Geld mit dem Schreinern von Bienenstöcken. “Die Bedingungen sind jetzt sehr gut für uns”, sagt er, “aber es müssten viel mehr Firmen nach diesen hohen Standards ernten.”
Elf Pflücker beschäftigt Fair Trees und ist damit ein kleiner Player hier. Die Ernte haben sie mit knapp sechs Tonnen bereits abgeschlossen. Die Zapfen werden vorgetrocknet und dann per Lkw nach Europa gebracht. An diesem Abend soll in einem Restaurant am Hauptplatz von Ambrolauri die Ernte gefeiert werden. Die Männer, fast alle mit schwarzen oder grauen Bärten, trudeln mit gehöriger Verspätung ein. Man geht zusammen zum Restaurant, das im Keller unter der im sozialistisch-klassizistischen Stil gebauten Gemeindeverwaltung liegt. Davor lungert ein Rudel Straßenhunde herum. Der andere Teil des Platzes wird von einer Polizeistation eingerahmt.
Unten in der holzgetäfelten Taverne sitzt Kraus am Kopf der Tafel. Es stehen viele Krüge mit bernsteinfarbenem Wein auf dem Tisch. Die Georgier sind bekannt für ihre ausgiebigen Trinkgelage. Vor jedem Anstoßen wird ein Toast gesprochen, das Schnaps- oder Weinglas wird meist auf ex geleert. Nun hält Kraus eine kurze Ansprache: “Ihr habt die Knochenarbeit gemacht. Ich bin sehr froh, dass bei uns kein Unfall passiert ist und ihr euch gut gesichert habt – ganz ohne Kindergarten.” Die Männer blicken ernst. Auch als er einen Witz darüber macht, dass man sich ja eine Stunde früher verabredet habe, er aber ja wisse, dass sie als Menschen aus Ratscha etwas mehr Zeit bräuchten, lacht keiner.
Erst nach ein paar Gläsern Wein löst sich die Stimmung, es werden Toasts auf Frieden, Liebe und die Verstorbenen ausgebracht. Kraus gibt den Tamada, den Toastmaster. Heute kann und will er die 5 : 1-Regel nicht befolgen. Er werde hier oft von Familien eingeladen, die Gastfreundschaft sei groß. “Während der Pflückzeit geht das aber nur mit dem 5:1-Deal: Ich trinke ein Glas, während sie fünf trinken.”
Reiseinformationen
Anreise: Lufthansa fliegt z. B. von München nach Tiflis, Wizz Air von Memmingen nach Kutaissi; von dort sind es nur etwa zwei Autostunden nach Ambrolauri, weiter ins Hochgebirge noch einmal zwei Stunden. www.lufthansa.com, www.wizzair.com
Unterkunft: z. B. Gästehaus Edena in Ambrolauri, Shishinashvili-Str. 21, DZ mit Frühstück ab 30 Euro; Hotel Metekhara, Gamsakhurdia-Straße 2, DZ mit FS ab 36 Euro. (Hotels über Booking oder HRS buchbar).
Arrangement: Gute Trekking- und Rundreisen im Land bietet Lasha Motsonelidze an, [email protected] Handynummer: 00995/579 08 49 39 Besondere Kulturreisen und Weintouren durch Georgien.
Allgemeine Auskünfte: www.georgia.travel